Herzensangelegenheiten
Wie weit Wunsch und Wirklichkeit doch auseinanderliegen können, ist immer wieder verblüffend. Wir wissen es natürlich schon lange und hätten es auch nicht besser ausdrücken können als Patrick Müller, CEO der Supermarkt-Kette Real: Er bezeichnet das Bio-Sortiment seines Unternehmens als „Herzensanliegen“ und sagt weiter, dass zukünftig „Frische, Regionalität, Nachhaltigkeit und faire Preise groß geschrieben werden“.
Allerdings sieht die „Real-ität“ ganz anders aus: Am 24.01.2020 meldete der Spiegel Ergebnisse einer Greenpeace-Recherche zum Fleischangebot in deutschen Supermärkten. Wenig überraschend: 88 Prozent des Frischfleisches der großen Lebensmittelhändler stammt aus prekären Haltungsbedingungen. Und dann heißt es: „Auf dem letzten Platz landete Real. Das Unternehmen lehnt die Kennzeichnung von Haltungsformen bisher ab – mit der Begründung „das sei für den Verbraucher nur schwer nachvollziehbar““.
Oxfam hat 2019 erneut einen Supermarkt-Check durchgeführt. Eigentlich konnten sich die Konzerne nach den katastrophalen Ergebnissen des ersten Checks 2018 nicht weiter wegducken. Vergleichsweise zügig hatte auch Aldi Süd reagiert und sich mit seiner Gesamtbewertung vom letzten auf den ersten Rang verbessert. Allerdings ist die Gesamtnote „mangelhaft“ unter lauter „ungenügend“ eine überschaubare Verbesserung. Interessant ist, dass die deutschen Großkonzerne auch im internationalen Vergleich sehr schlecht abschneiden. Absolutes Schlusslicht des Checks ist der „wir lieben Lebensmittel“-Händler Edeka, der sich laut Oxfam „jedem Fortschritt verweigert“.
Auch bei ihren Zulieferern verfolgen die Großen seit Jahrzehnten das Geschäftsmodell und Erfolgskonzept der Ausbeutung von Mensch und Natur. Und das rund um den Globus. Viele Regierungen arbeiten mit diesen Konzernen Hand in Hand. Germanwatch und Misereor enthüllen in einer Studie im Januar 2020, wie die deutsche Lebensmittelwirtschaft ihre menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten ignoriert. Die Studie legt die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte von 2011 als Maßstab zugrunde. Diese Leitprinzipien betonen die Verpflichtung von Staaten, verbindlich sicherzustellen, dass Unternehmen nicht nur im Inland, sondern auch entlang ihrer Liefer- und Wertschöpfungsketten (d.h. extraterritorial) ihren menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nachkommen müssen.
Viele Staaten setzen leider immer noch, allen voran die Bundesregierung, seit Jahren auf Freiwilligkeit der deutschen Konzerne und bremsen damit auch parteiübergreifende Bündnisse aus, wie zum Beispiel die Responsible Business Conduct Working Group in Brüssel.
Entsprechend gering fällt auch der „Erfolg“ der bis dato freiwilligen Initiative der deutschen Wirtschaft aus. Lediglich ein Fünftel der befragten Unternehmen erfüllen ihre menschenrechtliche Sorgfaltspflicht. Und das Ergebnis der Befragung ist womöglich noch geschönt. Denn wie Kritiker*innen der Befragung bemängeln, mussten die Unternehmen keinerlei Nachweise zu ihren Aussagen liefern. Außerdem wird ein großer Teil der Lieferkette einfach außer Acht gelassen. Befragt wurde das „Who is Who“ der deutschen Lebensmittelwirtschaft in den Bereichen Milch-, Geflügelfleisch- und Futtermittelproduktion sowie Agrarchemie.
Dabei entstehen ganz besonders im vorgelagerten Bereich dieser Branchen erhebliche Risiken für Mensch und Natur. Ein Beispiel ist der Soja-Anbau. Die Bohne gilt als wichtigster Proteinlieferant in der industriellen Tierhaltung. Der Anbau führt in Südamerika seit Jahrzehnten zu Landvertreibungen, Regenwaldabholzungen und teils tödlichem Pestizideinsatz.
Besonders im Sektor Landwirtschaft und Ernährungsindustrie treten weltweit massive Menschenrechtsverletzungen auf, beklagt die FAO, die Welternährungsorganisation der Vereinten Nationen. Dabei vertritt sie die Auffassung, dass die geforderte menschenrechtliche Schutzpflicht von Staaten ganz eindeutig nicht an den eigenen Staatsgrenzen endet und damit der einzelne Staat auch dazu verpflichtet ist, entsprechendes Verhalten von „eigenen“ Konzernen einzufordern und gegebenenfalls gesetzlich durchzusetzen.
Die 20 größten deutschen Unternehmen setzen ihre menschenrechtliche Sorgfaltspflicht nicht ausreichend um, so das Ergebnis einer Studie des Business and Human Rights Ressource Center vom November 2019. Zu den Hintergründen äußert sich die Studie folgendermaßen: „Dabei darf davon ausgegangen werden, dass es nicht allein daran liegt, dass die Achtung der Menschenrechte in globalen Wertschöpfungsketten eine komplexe Herausforderung ist. Vielmehr scheint das Thema (noch) keinen großen Stellenwert bei den Unternehmen zu haben. Dies ist wiederum eine Folge davon, dass die Achtung der Menschenrechte bislang gesetzlich nicht vorgeschrieben ist“.
Die Aktivist*innen der Initiative Lieferkettengesetz sind sich einig: „Mit diesem katastrophalen Ergebnis ist auch der letzte Beweis erbracht: Freiwillig tun die Unternehmen viel zu wenig für die Menschenrechte. Diesen Beweis muss die Bundesregierung nun anerkennen und ein Lieferkettengesetz vorlegen.“ Doch eigentlich war in der großen Koalition vereinbart worden, dass die Regierung ein Lieferkettengesetz solange nicht initiiert, bis nicht eine eigene, groß angelegte Unternehmensbefragung bei 3000 Unternehmen ausgewertet ist.
Aber das Desinteresse an der Befragung durch die Unternehmen war so überwältigend, dass es auf die Minister Gerd Müller und Hubertus Heil nachhaltig Eindruck machte. Nur gut 20 Prozent haben sich zurückgemeldet. Und nur 100 von 3000 Betrieben erfüllen nach ungeprüften eigenen Aussagen die menschenrechtlichen Vorgaben. Aus diesem Grund taten sich die beiden Minister zusammen, da die Werte „mehr als ernüchternd“ seien, und traten an die Öffentlichkeit. Das fand der „zuständige“ Wirtschaftsminister Peter Altmaier gar nicht gut und warnte vor wohlmeinenden Schnellschüssen.
Nachweislich versuchen Arbeitgeber – und Wirtschaftslobbyisten – seit Monaten Druck auf Altmaier auszuüben, um das Gesetz zu verhindern. „Mit so einem Gesetz für alle Unternehmen stehe ich ja schon mit beiden Beinen im Gefängnis“, „Dieser Unfug ist so groß, dass er so nicht kommen wird“ und „der Plan eines Lieferkettengesetzes für alle Unternehmen ist schlicht nicht praktikabel“, kritisierte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA).
Im Sommer übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft. Bis dahin wollen die Minister Müller und Heil einen Entwurf präsentieren, der europäische Zustimmung findet. Da könnte noch ein bisschen öffentlicher Druck ganz hilfreich sein. Unterstützen Sie das Anliegen und unterschreiben Sie die Petition der Lieferketten-Kampagne!