Kanarienvögel geben keine Milch
Ich nehme an, das ist nichts, was Sie nicht schon gewusst hätten. Warum also diese Aussage? Unter der Überschrift „Kälber billiger als ein Kanarienvogel“ berichtete der Spiegel im November vergangenen Jahres, dass ein neugeborenes Kuhkalb der Rasse „Schwarzbunte“ nur noch 8,49 € kostet. Nicht ein Kilo war gemeint, sondern ein ganzes, lebendiges Kalb. Der grüne Bundestagsabgeordnete und Bio-Bauer Friedrich Ostendorff hatte sich beim Landwirtschaftsministerium danach erkundigt.
Und das Ministerium lieferte gleich die Erklärung für diese „Wertlosigkeit“ der Kälber mit: Grund sei unter anderem die grassierende Blauzungenkrankheit (eine für den Menschen nicht gefährliche Viruserkrankung) im Süddeutschen Raum und den deshalb erteilten Exportbeschränkungen. Eine erst vor Kurzem durch die Bundesregierung erteilte Transportbeschränkung aus Tierschutzgründen für wenige Wochen alte Kälber quer durch ganz Europa kommt verschärfend hinzu. Außerdem verursache der Futtermangel im zweiten Dürresommer in Folge den Überschuss an Kälbern. Wer kein Futter hat, kann keine Kälber großziehen, die ein Landwirt für die eigene Bestandsergänzung nicht braucht. Erst recht, wenn die Futtermittel teurer werden, „lohnt“ es sich nicht mehr, alle Jungtiere groß zu ziehen. Also sind viele Kälber nicht verwertbare Kollateralprodukte der Milcherzeugung. Und wenn die Menge „am Markt“ so schnell steigt, dann fallen die Preise ins Bodenlose. Normale Marktregulierung eben.
Aber es gibt auch strukturelle Gründe, die das Ministerium verschweigt. Zum Beispiel die in den vergangenen Jahrzehnten extreme Züchtung der Rinderrassen auf immer höhere Milchleistungen bzw. Mastleistungen. Tiere der Rasse „Schwarzbunte“ sind echte Turbo-Milchkühe. Anfang der 1980er gab eine Kuh ca. 4.500 kg Milch pro Jahr. Im Kontrolljahr 2018 lag der Durchschnitt bei 8.100 kg. Die Anzahl der Kühe hat sich dabei erheblich reduziert, die Anzahl der Milchviehbetriebe in den letzten 20 Jahren ist von 152.000 auf 64.000 zurückgegangen. Im gleichen Zeitraum ist die Milchmenge von ca. 28 Millionen auf 33 Millionen Tonnen gestiegen. Die beiden Leistungsmerkmale Milchleistung und Mastleistung haben allerdings eine negative Korrelation. Je mehr auf hohe Milchleistung selektiert wird, desto negativer wird der Fleischansatz. Dies führt dazu, dass die Kälber unbrauchbar für die Mast sind, da sie im Vergleich zu Mastrassen zu langsam wachsen und das Fleisch oft nicht mager und günstig genug ist, um die Verbrauchererwartungen zu erfüllen. Was aber soll man mit einem Kalb anfangen, dessen potenzielle Milchleistung man nicht braucht und mit dem auch sonst nichts anzufangen ist? Das ist nicht erst seit vergangenem Jahr ein Problem. Schon 2015 berichtete ebenfalls der Spiegel unter der Überschrift „Kälber für die Tonne“ vom traurigen Schicksal „nutzloser“ Bullenkälber der Turbo-Mütter.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die extreme Konzentration im Kälbermastbereich und der damit verbundene hohe Industrialisierungsgrad. Die wichtigsten europäischen Produktionsländer sind Frankreich (30%) und die Niederlande (26%). Kalbfleisch lässt sich nur vermarkten, wenn es sehr hell ist, fast weiß. Um dieses Ziel zu erreichen, verlängert man die Tränkephase der Kälber. Die Tiere werden etwa 22 Wochen, also nicht mal ein halbes Jahr, mit sog. Milchaustauschern gemästet, bis sie ihr Schlachtgewicht von 150 kg erreicht haben. Muttermilch bekommen sie keinen Liter, diese ist für die Kälber zu „wertvoll“. Der Milchaustauscher mit pflanzlichen Komponenten, vor allem Soja aus Südamerika, ist viel billiger und für die industrielle Kälber-Produktion deutlich besser geeignet. Und obwohl ein Kalb normalerweise schon nach wenigen Lebenstagen anfängt, Heu oder Gras zu knabbern, ist dies in der konventionellen Kälbermast praktisch nicht auf der Speisekarte. Denn Heu oder Gras in den Futterrationen stören die Masteffizienz und verfärben das Fleisch durch den hohen Rohfaseranteil dieser Komponenten ins Rötliche. Deshalb leiden Kälber auch häufig unter chronischem Eisenmangel. Aber auch das ist ja kein unlösbares Problem, solang man Mineralstoffe und Vitamine aus den Küchen von Pharmaunternehmen beziehen kann. Mit kälbergerechter Fütterung hat die Erzeugung von „hellem“ Kalbsfleisch also nichts zu tun, das Tier darf sich nicht zum „unrentablen“ Wiederkäuer entwickeln.
Wie rasant die Preise Mitte des Jahres 2019 tatsächlich gefallen sind, zeigt eine Meldung von Anfang August 2019 in der Süddeutschen Zeitung. Der Sachsen-Anhaltinische Bauernverbandspräsident Olaf Feuerborn spricht davon, dass seine Bauernkollegen mit dem Rücken zur Wand stünden. Dies ist umso bemerkenswerter, als Sachsen-Anhalt im Ländervergleich mit einer durchschnittlichen Milchleistung von 9.500 Litern ganz oben auf der Rangliste steht. Weiter zitiert die SZ den Geschäftsführer der AGRAR GmbH Salzwedel, Christian Schmidt. Dieser berichtet, dass die Kälberpreise im Sommer 2019 innerhalb von drei Monaten von 200€ auf 90€ pro Tier gesunken seien. Nochmal drei Monate später, im November 2019, waren die Kälber dann praktisch nichts mehr wert. Einen weiteren Zusammenhang sieht Herr Schmidt in der Ankündigung der Bundesregierung, dass im Zuge der Deeskalationsbemühungen bzgl. der Handelsstreitigkeiten mit den Nordamerikanern mehr Rindfleisch aus den USA importiert werden soll. Die Preise für Mastkälber seien seither ebenfalls im freien Fall.
Bei einer mündlichen Anhörung des Umwelt- und Agrarauschusses des Schleswig-Holsteinischen Landtags am 08. Mai 2019 kommt der Verein „Pro Vieh“ zu folgendem Schluss:
„Die deutsche Überschussproduktion in der Milchwirtschaft fordert ihren Tribut. Die Folgen sind zu große Tierbestände, Hochleistungstiere, unzureichende Milchpreise und zu viele Kälber. Weniger leistungsfähige Tiere, männliche Kälber von Milchkühen und sogar „ein Zuviel“ an weiblicher Nachzucht können vom schwachen Milchpreis nicht mitgetragen werden. Aus diesem Grund muss der Export von Rindern in Drittländer aufrechterhalten werden. Das „System Milch“ funktioniert nur unter diesen Bedingungen. Ein regelrechter „Verschleiß“ an Hochleistungs-Milchkühen mit einer Lebenserwartung von nur etwa 5 Jahren, der Transport von 14 Tage alten männlichen Kälbern zur Kälbermast ins benachbarte EU-Ausland und der Export von Milchkühen in Drittländer stützen ein krankes System und erhalten es auf Kosten der Tiere künstlich aufrecht.“
Eine zutreffende Analyse, keine Frage. Allerdings mit einer entscheidenden Auslassung. Das System ist krank, weil ein derartiger Preiskampf zwischen den Supermarktkonzernen herrscht, dass alles niedergewalzt wird, was an bäuerlicher Struktur noch vorhanden ist. Und dies wird sich nicht ändern! Wenn, ja wenn, sich die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht dazu entschließen, mehr Geld für Milchprodukte, bzw. ganz allgemein für Nahrungsmittel auszugeben.
Noch eine kleine Randbemerkung zum Schluss: Eine ganz aktuelle Studie hat sich mit dem boomenden Bio-Milchmarkt beschäftigt, und ist der Frage nachgegangen, ob die Bio-Bäuerinnen und -Bauern Geld verdienen mit ihrer ökologischen Produktionsweise.
Die ermittelten Gesamterzeugungskosten liegen durchschnittlich bei knapp 72 Cent.
11,5 Cent Subventionen werden davon abgezogen. Bleiben gut 60 Cent. Der Auszahlungspreis für Milch lag im untersuchten Zeitraum bei ca. 47,5 Cent. Das Fazit von Kjartan Poulsen vom European Milk Board (EMB): „Wenn wir die Kosten von 60,29 Cent dem Biomilchpreis von 47,40 Cent gegenüberstellen, wird schnell klar, dass auch für die BiomilchlandwirtInnen keine Kostendeckung besteht.“ Nur 79 Prozent der auf den Betrieben entstandenen Erzeugungskosten werden also laut dieser Studie vom Preis abgedeckt. Für eine Deckung all ihrer Kosten inklusive einer fairen Entlohnung ihrer Arbeit würden die ErzeugerInnen noch weitere 16,34 Cent pro Kilogramm erzeugter Biomilch benötigen. Wir sollten uns nicht wundern, wenn in den nächsten Jahren immer mehr Bio-Betriebe aufhören werden, weil potentielle HofnachfolgerInnen keine Zukunftsperspektive haben.