Buchkritik: Der Welt geht es besser, als Sie glauben
Falls Sie schon die eine oder andere Marktlese gelesen haben und dabei auf die Kolumne Schneiders Senf gestoßen sind, so werden Sie vermutlich den Eindruck bekommen haben, dass ich nicht dazu neige, die Welt durch eine rosarote Brille zu betrachten. Eher durch ein Brennglas. Vielleicht manchmal allzu scharf, schonungslos – deprimierend!? Könnte es sein, dass unsere „gefühlte“ Weltsicht und der Eindruck einer Dauerkrise eine medial verzerrte Wahrnehmung ist? Geht es der Welt und den Menschen vielleicht sogar besser als vor zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren? Und falls dem so wäre, welche negativen Auswirkungen für unseren Kampf für eine bessere Welt könnte diese gehäufte negative Berichterstattung hervorgerufen haben?
Jacques Lecomte ist französischer Psychologe, ein Experte im Fachgebiet Positive Psychologie und Buchautor. Sein neuestes Buch „Der Welt geht es besser, als Sie glauben.“ ist mir vor einigen Monaten sozusagen „in die Hände gefallen“. Mein erster Gedanke war: Sowas les' ich nicht. Aber die Buchvorstellung weckte mein Interesse und so beschloss ich, mich auf dieses Wagnis einzulassen. Und ich habe es nicht bereut. Aus zwei Gründen: Die angeführte Quellenlage ist sehr umfänglich und viele dieser Quellen sind in Studien von UNO, UNICEF, FAO, UNESCO, WHO, Weltbank, ILO (internationale Arbeitsorganisation) und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen eingeflossen. Stichwortartig recherchierte ich noch zu den Themen, konnte dabei aber keine unlauteren Schlussfolgerungen bei Jacques Lecomte entdecken.
Ganz zu Anfang des Besuches schreibt der Autor folgenden Satz:
„Sich um die Probleme dieser Welt zu kümmern, ist ganz offensichtlich eine Notwendigkeit; was ich hier aber in Abrede stelle, ist der Nutzen des Übermaßes an Katastrophenmeldungen, die Tag für Tag von den Medien verbreitet werden.“ Weiterhin mahnt er zur Vorsicht im Umgang mit diesen Nachrichten. Seine Warnung basiert auf der Einschätzung, dass viele Nachrichten oft irreführend seien und überwiegend negative Berichterstattung uns demotiviere, statt uns Mut zu machen, sich gegen Missstände zur Wehr zu setzen.
Was fiele mir ein, wenn ich Bedrohungen aus den letzten Jahrzehnten, gegen die ich mich schon mit vielen anderen zur Wehr gesetzt habe, heute bewerten müsste? Z.B. das Waldsterben, das Wettrüsten und der Kalte Krieg, die Gewässerverschmutzung, Atomkraft und das Ozonloch. Alles sehr große politische Themen und Auslöser zum Teil heftiger gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Eigentlich hatten viele der Engagierten wenig Hoffnung, dass sich wirklich etwas verändern lassen würde. Und doch ist es anders gekommen. In allen diesen Bereichen hat sich die Situation ganz klar verbessert, zumindest national. Aber es gibt nicht nur solche „alte Kamellen“.
Wer hätte noch vor wenigen Monaten gedacht, dass es dem Pestizid Glyphosat, das wie kein anderes als Symbol für eine industrialisierte und globalisierte Landwirtschaft steht, derart an den Kragen geht. Monsanto hat in den Sommerwochen einen spektakulären Prozess mit einer Strafzahlung von über 200 Millionen Dollar an einen krebskranken Kläger verloren. Auch wenn sie in Revision gehen werden, es ist ein wichtiges Zeichen. Denn mittlerweile sind über 5000 ähnliche Klagen allein in den USA anhängig. Das könnte den Bayer-Konzern noch teuer zu stehen kommen. Ein weiterer Fall aus den letzten Monaten: Wer hätte gedacht, dass es zum ersten Gerichtsverfahren weltweit ausgerechnet in Deutschland kommt, in dem geschädigte pakistanische NäherInnen und Opfer eines Großbrandes in Karatschi mit 259 Todesopfern, einen westdeutschen Kunden anklagen. Es soll die Frage geklärt werden, ob der Textildiscounter kik Mitschuld an der Tragödie und deshalb Mitverantwortung trägt für die Arbeitsbedingungen in Fernost. Dies sind nur zwei Beispiele aus den letzten Monaten, die das Zeug haben, große Veränderungen hervorzubringen.
Herr Lecomte zitiert im ersten Teil seines Buchs den Biologen Erik Brever aus dem Jahre 2000 mit den Worten „das Problem ist die Ignoranz, nicht der Optimismus“.
Um den Fortschritt zu sehen, müssen wir die Probleme benennen. Also, ich gehe es an. Ich werde einige Punkte aus dem Buch von Herrn Lecomte für Sie zusammenfassen. Auf folgenden Gebieten gab es seiner Ansicht nach signifikante Verbesserungen in den vergangenen Jahrzehnten:
- Armut
„Seit 1990 hat die extreme Armut um mehr als zwei Drittel abgenommen, und mehr als eine Milliarde Menschen ist aus extremer Armut befreit worden“. Und diese Entwicklung war möglich, obwohl die Gesamtbevölkerung in den letzten knapp 30 Jahren um zwei Milliarden Menschen gewachsen ist. - Hunger
„Fast zwei Milliarden Menschen konnten in den letzten 25 Jahren aus dem Zustand der Unterernährung befreit werden. Zwischen 1990 und 1992 litten noch 19% der Weltbevölkerung an Unterernährung, im Zeitraum von 2014 bis 2016 waren es noch 11%.“ Das entspricht bei einer Steigerung der Bevölkerungszahl um gut zwei Milliarden Menschen einem absoluten Rückgang von 255 Millionen. Es können heute also fast 2,3 Milliarden Menschen mehr vor Unterernährung bewahrt werden als noch Anfang der 1990er Jahre. Allerdings verschlechtert sich laut aktuellem UN- Welternährungsbericht vom September 2018 die Situation seit 2015 wieder. 2015 beklagte die UN weltweit 777 Millionen hungernde Menschen. 2016 waren es schon 804 Millionen, 2017 821 Millionen. Und die Lage sieht nicht gut aus. - Schulbildung
„1996 besuchten 120 Millionen Kinder keine Schule. 2015 waren es noch 57 Millionen. Die beachtlichsten Fortschritte sind in puncto Gleichheit der Geschlechter zu verzeichnen.“ Ebenfalls trotz deutlich gestiegener Weltbevölkerung! - Demokratie
„Vor zwei Jahrhunderten machten die Demokratien gerade einmal 5% der Staaten aus. Seit den 1990er-Jahren sind sie zahlreicher als jene mit einem autoritären System.“ Allerdings sind diese Zahlen seit 2010 wieder rückläufig und erreichen die 50 Prozent nur noch knapp. Auf Seite 92 erwähnt dies auch der Autor in seinem Buch: „Die Demokratisierung der Welt ist ins Stocken geraten.“ - Gesundheitsvorsorge
„Mütter-und Kindersterblichkeit haben sich zwischen 1990 und 2015 halbiert.“
„Ausrottung der Pocken, die weltweit mehrere Millionen Opfer forderten.“
„Die Zahl der Neuinfektionen mit AIDS ist zwischen 2000 und 2013 um 40% zurückgegangen“. Zwischen 2005 und 2017 hat sich die Zahl der Aids-Toten von 1,9 auf 1,0 Millionen verringert.
„Die Sterbefälle von Malaria sanken zwischen 2000 und 2015 um 60%. 1,2 Milliarden Erkrankungen und 6,2 Millionen Todesfälle konnten vermieden werden.“ - Umwelt
„Der Verbrauch von Produkten mit Substanzen, die zum Abbau der Ozonschicht führen, wurde innerhalb von etwas mehr als 20 Jahren fast gänzlich eingestellt.“
„Die bewaldete Landfläche verminderte sich zwischen 1990 und 2015 […] um 128 Millionen Hektar“. Dies entspricht 3,1 Prozent der Gesamtfläche. „[A]ber weltweit verringern sich die Wälder dreimal weniger schnell als noch vor 15 Jahren.“ So wurde z.B. die Abholzungsrate im brasilianischen Amazonasgebiet zwischen 2004 und 2012 um 80 Prozent reduziert.
„Der Vormarsch der erneuerbaren Energien vollzieht sich in einem Tempo, das sich noch vor wenigen Jahren niemand hätte vorstellen können.“ Seit 2013 sind die CO2-Emissionen nicht mehr gestiegen.“ Allerdings stieg der Ausstoß 2017 wieder um 2 Prozent. - Biologische Vielfalt:
„Weniger als 1% der Organismen sind in den letzten vier Jahrhunderten ausgestorben. Während der vergangenen 30 Jahre ist keine einzige Meerestierart verschwunden. Das wahre Problem ist nicht das Verschwinden der Arten, sondern die abnehmende Anzahl der Tiere.“ Was meiner Ansicht nach natürlich nicht weniger beunruhigend ist.
„Seit einem halben Jahrhundert verdoppelt sich die Fläche der Schutzgebiete auf der Erde alle zehn Jahre. Mehr als 350 [der] als ausgestorben angesehene Arten wurden wiederentdeckt. […] 2014 waren 15,4% der Landfläche, 8,4% der Meeresgebiete und 10,9% der Küsten als Schutzzonen ausgewiesen.“
Häufig schreibt Herr Lecomte bei den aufgeführten Themen unter „Gründe für den Erfolg“, dass Druck von Aktivistenverbänden und NGOs zu Veränderungen und Verbesserungen geführt haben. Damit ermutigt er immer wieder und ganz ausdrücklich die Zivilgesellschaft, also uns alle, nicht aufzugeben und nicht den Mut zu verlieren. Am Ende eines jeden Punktes leitet der Autor den Schluss des Textes mit dem Satz „Vorsicht ist weiterhin geboten“ ein. Es scheint ihm sehr wichtig zu sein, klar zu stellen, dass er sich keinesfalls die Weltsituation schönreden will.
Jacques Lecomte sieht den wichtigsten aller Punkte, sich gegen eine pessimistische Weltsicht zu wehren, allerdings darin, dass „zahlreiche Studien zeigen, dass in Perioden großer gesellschaftlicher Ängste die Menschen dazu tendieren, sich einer Autorität unterzuordnen. Bestimmte Individuen sind dann bereit, auf gewisse Freiheiten zu verzichten, zugunsten des Gefühls der Sicherheit, die eine bevormundende Autorität ihnen vermittelt.“ Die Blaupause für diese Aussage sehen wir in der politischen Entwicklung in Europa und weltweit.
Zum Abschluss noch ein Zitat von Jacques Lecomte:
„[P]sychologische Forschungsergebnisse zeigen, dass wenn wir Menschen darauf bauen, dass wir mit unserem Handeln in Zukunft Erfolg haben werden, dies uns zu größeren Anstrengungen anspornt.“
In diesem Sinne: Lassen wir uns nicht entmutigen!