Der ganz normale Rinderwahnsinn
Haben Sie es gelesen? Große europäische Lebensmittelkonzerne sind plötzlich sehr besorgt! Ums Klima im Allgemeinen und um die „grüne Lunge“ unseres Planeten, den brasilianischen Regenwald, im Besonderen. Er gilt als globale Überlebensversicherung im Kampf gegen den Klimawandel und ist, so gesehen, eigentlich unser aller Regenwald. Nach langer Zeit des unbekümmerten europäischen Nutznießerdaseins in Bezug auf die Ausbeutung von brasilianischen Arbeiter*innen und Böden, erstaunt diese Neuigkeit. Denn 40 sehr bedeutende Konzerne aus der europäischen Lebensmittelbranche mit erheblicher Marktmacht haben sich zusammengeschlossen und der brasilianischen Regierung ihre Sorge über ein neues Gesetz ausgedrückt.
Sie drohen dem Präsidenten in ihrem Brief unverhohlen: „Im vergangenen Jahr haben wir mehrere Umstände wahrgenommen, die zu einer extrem hohen Anzahl von Waldbränden und Abholzung in Brasilien geführt haben.“ Durch den vorliegenden Gesetzesentwurf der brasilianischen Regierung sehen sie „eine noch größere Bedrohung“ für das Amazonasgebiet. Und weiter heißt es: „Wenn diese Maßnahme verabschiedet wird, haben wir keine andere Wahl, als unsere Unterstützung und Nutzung der brasilianischen Lieferkette zu überdenken.“ Sie sehen sich also gezwungen, zu erwägen, Produkte aus dem südamerikanischen Land auszulisten. Das so gescholtene Land ist nicht irgendein Land im globalen Agrarbusiness. Brasilien ist die globale Supermacht im Lebensmittelsektor. Die besorgten Konzernlenker legen sich also mit dem global produktivsten Agrarstaat an. Ist das nicht toll!? Doch bevor zu viel Euphorie aufkommt, schauen wir uns das Gesamtbild genauer an.
Vorab ein paar Daten zur Einordnung Brasiliens in die globale Lebensmittelproduktion: Brasilien ist das fünftgrößte Land der Erde, 25-mal so groß wie Deutschland. Auf der Liste der größten Volkswirtschaften belegt Brasilien Platz neun. Exportiert werden pro Jahr Waren im Wert von über 200 Milliarden US-Dollar. Davon stammen circa 45 Prozent aus dem Agrarsektor. Rund ein Drittel der Gesamtfläche, etwa 250 Millionen Hektar, wird zum Anbau von Lebensmitteln genutzt. Jährlich werden, überwiegend durch Brandrodung, zwei Millionen Hektar „Neuland“ gewonnen. Zum Vergleich: Die landwirtschaftliche Nutzfläche in der gesamten EU beträgt knapp 180 Millionen Hektar. Soja, mit einer Erntemenge von 115 Millionen Tonnen pro Jahr der wichtigste Schmierstoff für die Fleischindustrie und umsatzstärkstes Exportgut Brasiliens, wird auf einer Fläche von insgesamt 35,9 Millionen Hektar angebaut. Das entspricht in etwa der Fläche Deutschlands.
Entsprechend mischt Brasilien auch im weltweiten Fleischhandel ordentlich mit. Eine aktuelle Studie von „Reporter Brasil“ stellt fest: Brasilien hält für die Rindfleischproduktion den global größten Tierbestand. Laut Schätzungen leben mehr Rinder als Menschen (212 Millionen Einwohner*innen) in Brasilien. Bei Geflügel liegen sie hinter den USA auf Platz zwei. Der nationale Bestand liegt bei etwa 1,5 Milliarden Tieren. Circa ein Viertel des weltweit exportierten Rind- und Hühnerfleisches kommt aus Brasilien. Beim Schweinefleischexport liegt Brasilien auf Rang vier mit einem Anteil von zehn Prozent. Ebenfalls interessant: Industriell verarbeitetes Rindfleisch (z.B. Corned Beef) geht zu über 34 Prozent in die EU. Beim industriell verarbeiteten Hühnerfleisch (z.B. Chicken Nuggets) sind es fast 73 Prozent. Letztendlich wird aber ein großer Teil solcher Convenient-Produkte erst in Europa aus brasilianischem Frischfleisch hergestellt. Da die Herkunft der Zutaten bei Verarbeitungsprodukten nicht angegeben werden muss, fällt auf die heißbegehrten Chicken Nuggets somit kein Verdacht.
Im Rahmen dieser Studie wurden die deutschen Konzerne nach dem aktuellen Stand der Zusammenarbeit mit Brasilien gefragt. Wir ordnen hier die Großkonzerne zum Gesamtverständnis ein und fassen die Antworten zusammen:
Die Tönnies-Gruppe ist einer der größten Fleischproduzenten Europas. Das Unternehmen importiert Rindfleisch aus Brasilien und beliefert damit vor allem die großen Ketten Aldi, Lidl, Rewe und Edeka. Das südamerikanische Fleisch habe einen „vergleichsweise kleinen Anteil“ an den Aktivitäten des Unternehmens, heißt es aus der Konzernzentrale. „Wir erwarten, dass die Versprechen unserer Zulieferer eingehalten werden – so zum Beispiel das zwischen JBS (größter Fleischproduzent der Welt, größter Verarbeiter Südamerikas; Anm. d.Red.) und Greenpeace unterzeichnete Viehabkommen („Rinder-Abkommen“) und die damit einhergehenden Verpflichtungen der Firma“.
Die Schwarz-Gruppe (Lidl/Kaufland) äußerte sich folgendermaßen: „Wir möchten betonen, dass wir […] mit unseren Lieferanten wie JBS in engem Austausch über soziale und Umweltaspekte, wie die Entwaldung, stehen“. Sie verweisen ebenfalls auf das Rinder-Abkommen.
Aldi (Nord und Süd) gibt an, dass weniger als ein Prozent des angebotenen Frischfleisches aus Brasilien stamme und betont auch wieder das Rinder-Abkommen zwischen JBS und Greenpeace.
Die Rewe GmbH teilte unter anderem mit, dass sie in ihrem Sortiment kein „Naturfleisch“, also Frischfleisch, aus Brasilien anbietet. Dafür lässt Rewe (wie die anderen auch) von Verarbeitern in Europa verschiedenste Produkte aus brasilianischem Frischfleisch herstellen.
Edeka antwortete auf die Fragen überhaupt nicht. Bekannt ist, dass es bei Edeka schon lange brasilianisches Fleisch im Sortiment gibt, insbesondere Hühnerfleisch. Im Bereich der Eigen- und Exklusivmarken hat der Konzern im Lauf der vergangenen Jahre verschiedene Sorten brasilianischer Rinderteile verkauft.
Was lässt sich aus den Antworten ableiten? Zunächst war festzustellen, dass alle Angefragten ihr Bestes taten, das Thema Verarbeitungsfleisch, insbesondere in Bezug auf Geflügel, unerwähnt zu lassen. Es geht ja um den Themenkomplex Rinderhaltung und Urwaldrodung. Dadurch lassen sich deren Aussagen zum tatsächlichen brasilianischen Fleischanteil in ihrem Sortiment kaum angemessen einordnen. Dazu kommt: Aldi und die Schwarz-Gruppe waren auf der Liste der besorgten Großkonzerne, Tönnies, Rewe und Edeka nicht. Aus deren Stellungnahmen lässt sich schließen, dass die beiden Konzerne, die offensichtlich zu den größten Sorgenträgern ums globale Klima gehören, besonders stark auf die Bedeutungslosigkeit des brasilianischen Frischfleisches in ihren Sortimenten hinweisen. Handelt es sich hier also um reine Umweltliebe oder könnte es doch vielmehr ein öffentlichkeitswirksamer Schachzug sein, der konzernintern nur geringe Folgen nach sich zieht?
In der Diskussion taucht immer wieder das „Rinder-Abkommen“ auf. Dabei handelt es sich um das sogenannte „G4 Cattle Agreement“, das Greenpeace Brasil 2011 mit den vier größten Fleischerzeugern Brasiliens (Bertin (heute JBS), JBS, Marfrig und Minerva) getroffen hat. In diesem verpflichten sich diese, auf freiwilliger Basis, gewisse Standards in Bezug auf Umwelt und Menschenrechte innerhalb ihrer Liefer- und Verarbeitungskette zu gewährleisten.
Dazu zählen (auszugsweise)
- Der Nachweis, dass keine Tiere von Farmen gekauft werden, die an einer Abholzung oder an Landraub beteiligt waren.
- Der Nachweis, dass keine Tiere von Farmen gekauft werden, die Sklavenarbeit einsetzen.
- Der Nachweis, dass keine Tiere von Farmen gekauft werden, die keine Grundstückpläne oder Nutzungs- bzw. Nichtnutzungspläne der Flächen vorlegen können.
- Ein glaubwürdiges Nachverfolgungssystem, das die Überwachung, Überprüfung und Berichterstattung über die Herkunft aller Rinderprodukte und Nebenprodukte ermöglicht.
In die gleiche Kerbe schlägt das Abkommen „Terms of Adjustment of Conduct“ (TAC), ein Abkommen zwischen den genannten Fleischerzeugern und dem Federal Public Ministry, das inhaltlich dem G4 Cattle Agreement sehr ähnlich ist, die Erzeuger aber juristisch zu diesen Maßnahmen verpflichtet.
Wie gut diese Abkommen allerdings funktioniert haben, zeigt unter anderem eine Publikation der Universität Innsbruck vom März 2018. Hier liest sich unter der Überschrift „Illegale Rinder gefährden Null-Entwaldungsziel“ folgendes: „Eine kürzlich veröffentlichte Studie […] stellt den Erfolg dieser Rinderabkommen jedoch in Frage. Würden das gesetzlich bindende TAC- oder auch das von Greenpeace initiierte G4-Rinderabkommen tatsächlich greifen, so müsste der Ausschluss von illegalen Rindern gewährleistet sein.“ Forscher der Studie konnten nämlich nachweisen, dass beispielsweise allein in der Gegend um Novo Progresso im Norden Brasiliens mehr als 350.000 Rinder illegal weiden. Das entspricht ungefähr der Hälfte der lokalen Rinder. Offiziell gibt es die also gar nicht, weshalb die Forscher von „Rinder-Wäsche“ sprechen. Diverse Interviews vor Ort mit Beteiligten bestätigen, dass es in Wirklichkeit etliche Schlupfwinkel gibt, um die Kriterien des Rinderabkommens zu umgehen. Einer davon liegt in der Tatsache, dass die großen vier Erzeuger ihre Rinder von Farmen beziehen, die selbst wiederum durchschnittlich 23 Zulieferer haben, welche die genannten Vereinbarungen nie unterschrieben haben. Durch diese vielen Stufen waren JBS und Co. schlichtweg gar nicht in der Lage, die vereinbarten Standards für die gesamte Lieferkette zu garantieren bzw. nachprüfbar zu machen. Bestätigt wird das durch einen aktuellen Report von Greenpeace International aus diesem Jahr, in dem die Organisation zu dem Schluss kommt, dass die Rinderzucht das Pantanal, eines der größten Binnen-Feuchtgebiete der Welt, durch Brandrodung zerstört. Entsprechend hat die Umweltorganisation die Zusammenarbeit mit JBS, Marfrig und Minerva mittlerweile beendet und sich von dem Abkommen distanziert.
Fazit: Aldi und die Schwarz-Gruppe zeigen vorwurfsvoll mit dem Finger auf ein Land, von dessen Erzeugungspraktiken sie selbst jahrelang profitierten und profitieren. Die moralische Rechtfertigung dafür lassen sie sich von einem Abkommen bestätigen, dass so gar nicht mehr existiert. Die Stellungnahmen der Lebensmittelkonzerne scheinen also ein weiteres Mal mehr zu verschleiern, als dass sie transparent machen.