Gerichte For Future
Seit einigen Jahren, und ganz besonders in den letzten Monaten, mischen sich nationale und internationale Gerichte immer massiver in die globale Klimapolitik ein. Die öffentlichen Reaktionen nach den jeweiligen Gerichtsurteilen überschlagen sich: Sie werden als „historisch“, „beispiellos“, „bahnbrechend“ oder auch als „Paukenschlag“ bzw. „juristische Sensation“ bezeichnet. Der lapidare Kommentar der Hamburger Juristin Rhoda Verheyen dazu: „Wenn die Politik zu lange pennt, dann regeln das die Gerichte.“ Weltweit nimmt die Zahl der Klagen für mehr Klimaschutz weiter zu: Aktuell laufen rund 1.700 Verfahren, mehrere davon gegen Energiekonzerne.
Peruanischer Bauer verklagt die RWE AG
November 2017
Oberlandesgericht Hamm (OLG)
Vor fast vier Jahren machte der peruanische Bauer Saul Lliuja Schlagzeilen. Das starke Tauen eines Gletschers bedrohte sein Haus und seinen Hof, als Folge des Klimawandels also bedroht das Gletscherwasser seine Existenz. Deshalb verklagt er den Energiekonzern RWE AG, denn die RWE ist für 0,47 Prozent der weltweit ausgestoßenen Treibhausgase verantwortlich. Mit der RWE sitzt ein Schwergewicht im Energiebusiness auf der Anklagebank. Das Landgericht Essen hatte noch 2016 die Klage des Bauern abgewiesen, doch das Oberlandesgericht Hamm ordnete dann im November 2017 in dem Zivilrechtsstreit die Beweisaufnahme an. Erstmals wird also ein deutsches Gericht über eine Schadensersatzklage wegen CO2-Emissionen verhandeln. Laut OLG hat der Bauer seine Klage schlüssig begründet. Die Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch, die den Landwirt unterstützt, erklärte: „Erstmals hat ein Gericht bejaht, dass prinzipiell ein privates Unternehmen für seinen Anteil an der Verursachung klimabedingter Schäden verantwortlich ist.“
Niederländische Klimaschützer*innen verklagen ihren Staat
Juni 2015
Bezirksgericht in Den Haag
Niederländische Klimaschützer*innen haben es tatsächlich geschafft: Sie haben den Staat verklagt. Der wurde vom Bezirksgericht im Sommer 2015 zu mehr Klimaschutz verdonnert. „David“ so hieß es damals, „siegt spektakulär gegen Goliath“. Und die Richter*innen machten ordentlich Druck: Die sechstgrößte Volkswirtschaft Europas wurde dazu verpflichtet, den CO2-Ausstoß bis Ende 2020 um mindestens 25 Prozent gegenüber dem Stand von 1990, und bis 2050 schrittweise um mehr als 90 Prozent zu senken. Das historische Urteil der ersten Instanz wurde 2018 vom Zivilgericht in Den Haag bestätigt. Der Klimawandel stelle eine konkrete Bedrohung dar, sagte die Vorsitzende Richterin. Die Regierung legte Berufung ein mit der Begründung, dass das Thema Klimaschutz eine politische und keine juristische Fragestellung sei. Doch der oberste Gerichtshof bestätigte die Entscheidungen der Vorinstanzen: Es gebe in der Wissenschaft und in der internationalen Gemeinschaft einen „großen Konsens“, dass die Industrieländer die Emissionen von Treibhausgasen bis Ende kommenden Jahres dringend um mindestens 25 Prozent reduzieren müssen. Der niederländische Staat habe nicht erklärt, warum eine geringere Kürzung gerechtfertigt sei.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lässt Klage von portugiesischen Kindern zu
November 2020
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg
Der EGMR hat grünes Licht für eine außergewöhnliche Klage von sechs Kindern und Jugendlichen aus Portugal gegeben. Allen EU-Staaten sowie Norwegen, Russland, Großbritannien, der Türkei, der Schweiz und der Ukraine werfen sie vor, die Klimakrise verschärft und damit die Zukunft ihrer Generation gefährdet zu haben. Ihr Ziel: Der EGMR soll die Klimasünder dazu anhalten, ihre nationalen Ziele höher zu setzen und die von ihnen und ihren international tätigen Konzernen weltweit verursachten Emissionen zu reduzieren. Warum ist die Klage so einzigartig? Eigentlich muss man zunächst vor einem inländischen Gericht klagen, bevor man den EGMR anruft. Also wären portugiesische Richter*innen zuständig. Im Falle des Kampfes gegen den grenzübergreifend verursachten Klimawandel sei es, so die Richter*innen am EGMR, für Heranwachsende allerdings nicht möglich, ihr Anliegen in 33 verschiedenen Ländern vorzubringen und jeweils bis zu den höchsten nationalen Gerichten zu verfolgen,. Die Nichtregierungsorganisation Global Legal Action Network (GLAN) spricht von einer „beispiellosen Aktion“. Die Entscheidung des EGMR sei nun „ein wichtiger Schritt in Richtung eines möglichen, wegweisenden Urteils zum Klimawandel“.
Bundesverfassungsgericht kassiert das Klimaschutzgesetz
April 2021
Bundesverfassungsgericht Karlsruhe
Klimaschutz ist Freiheitsschutz, meinen Karlsruher Richter*innen. Das ist deren durchaus überraschende Gleichung zur Klimapolitik. Dabei wägen sie bei den Maßnahmen zum Klimaschutz den Freiheitsverbrauch jetziger und die daraus resultierenden Freiheitsbeschränkungen künftiger Generationen ab. Die Folgen des Klimawandels sind laut Verfassungsrichter*innen die Konsequenzen der Inanspruchnahme von Freiheitsrechten der jetzigen Generation. Diese Freiheitsrechte müssen aber gerecht über Zeit und Generationen verteilt werden. Damit definieren sie einen Maßstab für zukünftige juristische Auseinandersetzungen in Sachen Klimaschutz und deuten damit an, dass sie ab jetzt beim Jahrhundertthema Klimaschutz ein mächtiges Wort mitsprechen werden. In ihrem Urteil stellen sie außerdem fest, dass sie die momentan ergriffenen Maßnahmen bezüglich der Generationengerechtigkeit in Sachen Freiheitsrechte für nicht ausreichend halten. Dass das Gericht Kindern und Jugendlichen ein Klagerecht mit Blick auf in Zukunft drohenden Grundrechtseinschränkungen zugesteht, ist die juristische Sensation dieser Entscheidung. Sie könnte die Begründung eines neuen Generationenvertrags sein, der sich nicht einmal allein auf deutsche Staatsbürger*innen bezieht. Grundsätzlich erkennt das Gericht auch eine Klagebefugnis von Beschwerden aus Bangladesch oder Nepal an. Faktisch führt das Bundesverfassungsgericht mit seiner Entscheidung eine Art globale Klima-Popularklage ein.
Shell zu mehr Klimaschutz verpflichtet
Mai 2021
Bezirksgericht Den Haag
Sieben Umweltschutzverbände haben Shell vor einem Gericht in Den Haag verklagt. Das Urteil ist ein Signal für den Klimaschutz: Der Konzern kann seine Mitverantwortung für den Klimawandel nicht abweisen. Er muss seinen CO2-Ausstoß um 45 Prozent reduzieren. Eine Richterin sagte: „Shell kann und muss die CO2-Emissionen reduzieren.“ Und dazu ist der Konzern nun auch gesetzlich verpflichtet: Bis zum Jahr 2030 muss er seinen Treibhausgasausstoß um 45 Prozent netto verringern, gemessen am Stand des Jahres 2019. Mit dieser Entscheidung hat das Gericht einen Präzedenzfall geschaffen. Greenpeace sprach von einem „Paukenschlag für die Ölindustrie“ und einem „historischen Erfolg für alle, die unermüdlich für mehr Klimaschutz eintreten“. Das Urteil reiche weit über Shell hinaus und warne jedes Unternehmen, „dass Geschäftsmodelle auf Kosten von Natur und Klima nicht länger zulässig sind.“
Acht Schüler*innen klagen gegen die australische Umweltministerin
Mai 2021
Bundesgericht in Melbourne, Australien
Ein Gericht in Australien hat die Rechte junger Generationen auf besseren Klimaschutz gestärkt. Acht Schüler*innen hatten gegen Melissa Price, die Umweltministerin des Landes, wegen der geplanten Erweiterung einer Kohlemine geklagt. Das Gericht entschied, die Umweltministerin stehe in der Pflicht, junge Menschen vor der Klimakrise zu schützen. Durch die Kohle aus der betroffenen Mine würden 100 Millionen Tonnen CO2 in die Atmosphäre gelangen, was eindeutig zur Klimakrise beiträgt, befand der Richter. „Die potenziellen Schäden dürfen wohl klar als katastrophal bezeichnet werden,“ so der Richter in seiner Urteilsbegründung. Wirtschaftliches Leiden, ökologische Schäden u.a. durch Brände und schwere Krankheiten bis hin zum vorzeitigen Tod – das sind die drohenden Schäden, die Price abwenden soll. Gerade in Australien hat dieses Urteil eine besondere Tragweite: Das Land ist einer der größten Kohleexporteure der Welt, und die konservative Regierung hält bisher an der Kohleförderung fest. Nun hat die Umweltministerin der Regierung also die Pflicht, im Sinne der jungen Generation einzugreifen, wenn ihre Regierung den Klimawandel durch weitere Kohleprojekte verschlimmert. Dieses Urteil sei ein Durchbruch, meinen Experten, es öffne eine Tür: Regierungen und Unternehmen könnten wegen fahrlässiger Verletzung der Sorgfaltspflicht sowie Schäden durch die Auswirkungen des Klimawandels verklagt werden.