Hätte, hätte, Lieferkette
Zur weltweiten Ausbreitung des Coronavirus gehörten Anfang des vergangenen Jahres auch Berichte von Näher*innen aus Bangladesch. Sie gingen aus schierer Verzweiflung über ihre prekäre Lage auf die Straße, da der bisher bezahlte Hungerlohn durch den Lockdown in Teilen der Welt jetzt auch wegfiel. Finanzielle Reserven zur Überbrückung oder gar eine soziale Absicherung, das gaben die Löhne der großen internationalen Modelabel nicht her. Man sah deren Vertreter vor Kameras in Mikrophone sprechen und ihre Anteilnahme an dem Leid der Näher*innen mit belegter Stimme zum Ausdruck bringen. Kein Wort darüber, dass genau sie, die Konzernbosse, es zu verantworten hatten, dass die Lage für Millionen Billiglöhner*innen derart prekär war. Und auch kein Wort darüber, was später allerdings noch an die Öffentlichkeit drang, dass von manchen Modekonzernen die bereits produzierte Frühjahrskollektion einfach komplett storniert und natürlich auch nicht bezahlt wurde.
Im Juli 2020 trat dann Bundesentwicklungshilfeminister Gerd Müller vor die Presse und gestand ein „klägliches Scheitern“ ein. Bei einer Befragung hatte sich herausgestellt, dass kaum mehr als 20 Prozent der deutschen Unternehmen in ihren Lieferketten die Arbeits- und Sozialstandards einhielten, die in einem nationalen Aktionsplan eingefordert wurden. Deshalb forderte er gemeinsam mit Bundesarbeitsminister Hubertus Heil die schnelle Verabschiedung eines verpflichtenden Lieferkettengesetzes: „Wir lagern Produktionsketten aus in Entwicklungsländer und unterlaufen Standards für unsere Produkte in unserer Wohlstandsgesellschaft, soziale und ökologische Standards, die bei uns selbstverständlich sind. Wir akzeptieren und zementieren damit die Ausbeutung von Mensch und Natur in Entwicklungsländern. Und wir tolerieren im großen Stile Kinderarbeit.“ Die Minister wiesen darauf hin, dass im gemeinsamen Koalitionsvertrag festgelegt wurde, dass ein solches Gesetz kommen soll, wenn sich die freiwillige Verpflichtung der deutschen Wirtschaft als wirkungslos herausstellt.
Schon 2011 hatte die UN Leitprinzipien zum Thema entwickelt, die Grundlage der politischen Entscheidung in Deutschland sein sollten. Nach zehn Jahren und mehrmals verschobener Besprechungen durch das Bundeskabinett sind die beiden Minister, so kann man das deuten, ziemlich verärgert über die neuen Angriffe aus Wirtschaft und Politik. Im Spiegel betont Heil „Um es anders zu sagen: Ich bin ziemlich sauer.“ und sprach von „menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten“. Er verlange nichts Unmögliches, wie von vielen Unternehmen auf freiwilliger Basis demonstriert werde. Gerade vor Weihnachten dürfe niemandem gleichgültig sein, unter welchen Bedingungen im Ausland etwa Schokolade und Laptops produziert werden, die man verschenken möchte. Ende Oktober 2020 wurde ein Bericht der 63. Sitzung des Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe mit der Überschrift „Mehrheit der Experten befürwortet ein Lieferkettengesetz“ veröffentlicht. Dort heißt es: „( … ) Die Sachverständigen aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft unterstützten überwiegend den Plan der Bundesregierung für ein solches Gesetz, das die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards in der globalen verbessern soll.“ Minister Müller wiederum sagte in einem Interview Ende November u.a.: „Wir müssen vor Weihnachten zu einer Entscheidung kommen.“ Dies sei im Koalitionsvertrag eindeutig festgelegt. „Die Eckpunkte von Arbeitsminister Heil und mir liegen nunmehr seit vier Monaten vor. Die Blockade einiger Wirtschaftsverbände darf nicht dazu führen, dass ein Gesetz in dieser Legislaturperiode verhindert wird.“
Die Welt schreibt Anfang Dezember 2020, dass namhafte und mächtige Wirtschaftsverbände, darunter der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) und der Handelsverband Deutschland (HDE) sich gegen die Gesetzesinitiative stellen. Das Ansinnen der beiden Minister wird als „wichtige Debatte über Wirtschaft und Menschenrechte bezeichnet“, solle aber „die Praktikabilität für die Unternehmen sowie die Auswirkungen für die Partner vor Ort in den Mittelpunkt stellen.“
Allerdings gibt es auch Unternehmen und Verbände, die sich prinzipiell für eine Haftung aussprechen. So erklärte der europäische Markenverband AIM (Nestlé, Puma) mit Blick auf ein europäisches Lieferkettengesetz, Unternehmen sollten dafür haftbar gemacht werden können, dass sie keine ausreichenden Sorgfaltsverfahren eingerichtet und angewendet haben. Zum Tag der Menschenrechte am 10. Dezember sprechen sich 42 deutsche Unternehmen für ein Lieferkettengesetz aus. In der Liste finden sich bekannte Namen wie Tchibo, Ritter Sport, Nestlé Deutschland und Hapag Lloyd. „Die großen Arbeitgeberverbände können mit ihrer ablehnenden Haltung längst nicht mehr für sich beanspruchen, die Interessen der Wirtschaft zu vertreten. Bei vielen Unternehmen wächst die Überzeugung, dass nur ein gesetzlicher Rahmen Wettbewerbsgleichheit schafft“, sagt Johannes Schorling von der Entwicklungsorganisation INKOTA. „Unternehmen, die sich für die Achtung der Menschenrechte und den Umweltschutz engagieren, dürfen gegenüber der verantwortungslosen Konkurrenz nicht länger benachteiligt werden.“
Der DGB fordert zur Unterstützung der Minister-Initiative dazu auf, eine Petition mit der Überschrift „Gegen Gewinne Ohne Gewissen – Frau Merkel, wir brauchen endlich ein Lieferkettengesetz“ zu unterstützen. Neben dem DGB hat sich ein breites Bündnis vieler gesellschaftlicher Akteure unter dem Dach der Initiative Lieferkettengesetz organisiert.
Im September 2020 veröffentlichte Infratest Dimap die oben dargestellten Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage zum Thema.
Man könnte sagen, dass dies ein eindeutiges Votum der Bevölkerung ist. Wäre schön, wenn unsere Volksvertreter*innen den Mut hätten, gegen die Verantwortungslosigkeit in der deutschen Wirtschaft ein Zeichen zu setzen. Auch wenn es den Bremsern der Initiative gelungen ist, eine Verabschiedung des Gesetzes vor dem Jahreswechsel zu verhindern.
„Ich meine, dass der Kapitalismus, wie wir ihn derzeit betreiben, auf Kosten der ohnehin Schwachen geht. Unter dem Stichwort ‚freier Welthandel‘ beuten wir Arbeitskräfte in Ländern wie Bangladesch in einer menschenunwürdigen Weise aus. Auch wenn die Welthandelsorganisation WTO nun versucht, Standards für bessere Arbeitsbedingungen einzuziehen – Fakt ist, dass wir, also der Westen, diese Menschen zu inakzeptablen Löhnen für uns arbeiten lassen.“ (Wolfgang Schäuble in einem Welt Interview im November 2020)