Christliche Verirrungen
Als ich den Begriff „Abschiebepatenschaft“ zum ersten Mal im Zusammenhang mit einer gemeinsamen europäischen Flüchtlingspolitik gehört habe, hat ein Sprecher am Mikrofon es u.a. so erklärt: Wenn sich europäische Partnerstaaten wie z.B. Ungarn kategorisch weigern, auch nur einen Flüchtling aufzunehmen, werden sie dazu verpflichtet, sogenannte Abschiebepatenschaften einzugehen.
Bei wikipedia lese ich: „Als Patenschaft wird die freiwillige Übernahme einer Fürsorgepflicht bezeichnet. Eine Patenschaft unterscheidet sich von einer Partnerschaft darin, dass die beiden Teilnehmer nicht gleiche Rechte und Pflichten besitzen, sondern eine einseitige Fürsorgeaufgabe wahrgenommen wird.“
Wer übernimmt also „freiwillig“ Fürsorgeaufgaben in der EU? Wer ist der Hilfsbedürftige, wer der Helfer? Im ersten Moment hatte ich es so verstanden: Die hilfsbedürftigen und Zukunft suchenden Flüchtlinge werden jetzt von Ungarn und anderen Staaten unterstützt. Das war natürlich falsch. Die Regierungen von Ungarn, Polen und weiteren Ländern weigern sich ja, Flüchtlinge aufzunehmen. Nein, diese Staaten sollen die anderen europäischen Länder insofern unterstützen, dass sie abgelehnte und auf die Abschiebung wartende Menschen bei sich in Sammelunterkünften unterbringen und zügig in ihre Heimatländer abschieben. Es geht also nicht um hilfsbedürftige Flüchtlinge, sondern um die eigentlich aufnahmewilligen und deshalb hilfsbedürftigen EU-Länder, die die „Last“ der Migrationsströme bisher alleine tragen. Für die Abschiebung von illegal Eingereisten soll ein EU-Mitgliedsland insgesamt ein Jahr Zeit haben. Wird das Ziel verfehlt, so müsse das betreffende EU-Land im Gegenzug asylberechtigte Personen in gleicher Anzahl aufnehmen, heißt es in dem Bericht aus dem Hause von der Leyen. Die EU-Kommission schlägt demnach auch vor, einen „EU-Koordinator für Rückführungen“ zu ernennen, der einer Taskforce vorstehen soll. Ziel sei es, die Abschiebungen innerhalb der EU besser zu koordinieren und besonders effiziente Praktiken bei Rückführungen zu identifizieren.
Zu Form und Inhalt gab es vielerlei heftige Reaktionen. „Deshalb ist das Wort „Abschiebepatenschaft“ blanker Zynismus (…) Das Wort suggeriert Verantwortungsbewusstsein, wo eigentlich eine Ablehnung von Verantwortung zu sehen ist. Das Wort postuliert moralische Reinheit, wo sich eigentlich moralische Verkümmerung verbirgt. Dieses Wort ist eigentlich ein sehr zynisches Wort und ein Armutszeugnis für eine menschenverachtende Politik.“ sagt Kübra Gümüsay (Buchautorin „Sprache und Sein“) dazu. Das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) schreibt: „Das Feld der Migrations- und Asylpolitik war immer schon für Wortschöpfungen aus dem Gefrierfach gut. Man kann es an den Unworten des Jahres ablesen. 2006 wurde die ‚freiwillige Ausreise‘ von Flüchtlingen prämiert, denen sonst die Abschiebung droht. 2013 folgte der ‚Sozialtourismus‘. Die Europäische Union fügte nun ‚Abschiebepatenschaften‘ hinzu.“ Günter Burkhardt, Geschäftsführer von Pro Asyl, meint: „Dies ist ein teuflischer Pakt der Entrechtung. Von Rechtspopulisten getrieben verrät die EU-Kommission das Asylrecht und die Menschenrechte von Schutzsuchenden (…) Die nun bekannt gewordenen ‚Abschiebepatenschaften‘ durch andere, nicht aufnahmewillige EU-Staaten sind für Schutzsuchende bedrohlich. Die neue europäische Solidarität heißt, sich darin einig zu sein, Menschen abzuschieben.“
Auch in der Kirche rumort es ganz schön bei den Themen Flüchtlinge und Seenotrettung. Im Korrespondenzblatt Nr. 10 vom Oktober der Pfarrer- und Pfarrerinnenverein der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern kam dazu ein Artikel mit Sprengkraft. Geschrieben hat ihn Dr. Matthias Dreher, Pfarrer in der Nürnberger Melanchtongemeinde. Die Überschrift seines Artikels lautete „Ein Christ kann ertrinken lassen“. Es war eine Antwort auf den Artikel eines Pfarrerkollegen, der einige Ausgaben früher die Seenotrettungseinsatze rechtfertigte, an denen die EKD beteiligt ist. Diese Überschrift war wohl bewusst provokativ gewählt und hat ihr Ziel nicht verfehlt. Das macht in meinen Augen die nachträgliche Beschwichtigung, dass alles Geschriebene ja so nicht gemeint war und hysterisch falsch interpretiert wird, sehr unglaubwürdig. Und auch der Text spart nicht an Polemik und Menschenverachtung. Zwei kurze Ausschnitte: „Die kategorische Behauptung ‚Man kann doch als Christ niemanden ertrinken lassen!‘ fungiert in der ethischen Frage nach privater bzw. kirchlicher Seenotrettung immer öfter als deprimierend unterkomplexes Totschlag-Argument. Zu einer schwierigen, dilemmatischen Frage der Ethik wird eine Anschauung von großer emotionaler Plausibilität hinzugesetzt, um nur eine Antwort als möglich und christlich zu evozieren – ein übliches populistisches Verfahren ( … ) “. Dies ist der erste Satz des Textes. Danach folgen viele weitere, für mich schwer zu lesende, und zum Abschluss dann folgender Satz: „Im Zuge der Zwei-Reiche-Lehre, die operative Strukturpolitik dem Staat überlässt, kann ein Christenmensch, soweit er nicht wie der Samariter einen Sterbenden vor sich sieht, Verantwortung vernachlässigende Migranten ertrinken lassen. Das ist nicht zynisch, sondern traurig und ärgerlich und kontinuierlich systemisch zu verringern, aber es ist eben auch ein Kennzeichen der gefallenen Welt. Nur wer den Bau des Reiches Gottes nicht Gott überlassen kann, sondern es selbst bewerkstelligen muss, wird weiter unverantwortlich mit Rettungsschiffen mehr Migranten aufs Wasser ziehen.“
Das sind Sätze, bei denen ich mich frage, an welchen Gott Herr Dreher eigentlich glaubt? Ist das ein Gott der Barmherzigkeit, der alle seine Geschöpfe liebt? Herr Dreher nennt die unbedingt formulierte christliche Forderung nach Seenotrettung ein „übliches populistische Verfahren“, weil sie das Ertrinkenlassen kategorisch ausschließt. Das solle man aber nicht, bei offensichtlich völlig unverantwortlichem Handeln seitens der Flüchtlinge. Diese begäben sich trotz der Gefahr für Leib und Leben in für eine Überfahrt übers Mittelmeer oftmals untaugliche Boote. Selbst schuld, meint Herr Dreher. Er nennt das Ertrinken von Flüchtlingen „ärgerlich und kontinuierlich systemisch zu verringern“, aber es läge halt an der von Gott abgefallenen Welt, dass so schlimme Dinge geschähen. Und darum müsse sich Gott höchst persönlich kümmern.
Bei diesen Aussagen kommt mir das Jüngste Gericht in den Sinn, das „christliche Ende der Welt“. Obwohl ich mit solchen religiösen Gerichtsszenarien nicht sonderlich viel anfangen kann, finde ich es schon sehr interessant, nach welchen Kriterien denn dieses Verfahren stattfinden soll. Im 25. Kapitel des Matthäusevangeliums gibt es dazu eine Geschichte, in der es heißt, die „Völker der Welt“ werden vor Jesus zusammengerufen. Die „Gerechten“ werden von den „Verfluchten“ separiert. Und die versammelten Völker bekommen eine Erklärung zu den Separationskriterien:
„Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen ( … ) Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“
Vielleicht sollten wir uns darauf besinnen, wenn bald das Fest der Liebe vor der Tür steht. Es symbolisiert ja den Beginn der christlichen Religionsgeschichte, wenn man so will. In dieser Szenerie wird der Sohn Gottes völlig schutzlos als kleines Kind unter sehr widrigen Umständen in einem Kuhstall geboren. Denken wir uns die himmlischen Heerscharen, die opulenten Geschenke der drei Könige aus dem Morgenland und das nachträglich eingeführte Lichtermeer weg, dann ist die Szenerie recht düster. Und die „heilige Familie“ hatte auch keinen dauerhaften Schutz in dem Stall, weil Ihnen schon nach wenigen Tagen die Häscher Herodes nachstellten. Ich persönlich sehe hier durchaus gewisse Parallelen.
Liebe Kundinnen und Kunden:
Im Dezember konnten wir, dank ihrer Bereitschaft, durch unsere „Wir Steuern Um“-Kampagne insgesamt 4947,00 € an die Seebrücke überweisen. Am 04.12.20 wurden wir von den Organisator*innen darum gebeten, eine Aktion zu unterstützen, die in den Tagen davor von „SARAH Seenotrettung“ im Mittelmeer durchgeführt wurde. Dabei konnten 64 Menschen in Holzbooten vor dem Ertrinken gerettet werden.
Lassen wir uns nicht beirren: Jedes Menschenleben ist wertvoll. Es ist so oder so schützenswert. Um jeden Preis und mit vollem Einsatz.
Herr Dreher wurde übrigens (mit „seinem Einverständnis“) Mitte November von seinen Aufgaben in der Melanchtongemeinde entbunden und anderweitig mit „allgemein-christlichen Aufgaben“ betraut.